Zum Inhalt wechseln

Medizintechnik

Pflaster für innere Wunden

19.08.2021 | ANDREA SIX

Wunden im Verdauungstrakt zu verschliessen, ist eine Herausforderung. Empa-Forschende haben daher ein Polymer-Pflaster für den Darm entwickelt, mit dem Verletzungen stabil verklebt und abgedichtet werden können.

/documents/56164/16644319/EQ71+Darm+Inge+neu+870.jpg/f7943ead-9e1c-4770-a2fd-0e7351e05c89?t=1618403003547
Patentiert: Das Team um Inge Herrmann und Alex Anthis hat ein Hydrogel-Pflaster entwickelt, das Operationswunden stabil abdichtet. Bild: Empa

Ein geplatzter Blinddarm oder eine lebensgefährliche Darmverschlingung sind Notfälle, die eiligst von Chirurgen versorgt werden müssen. Eine rettende Operation, bei der Gewebe vom Verdauungskanal wieder zusammengefügt werden muss, birgt allerdings einige Risiken. Denn alles, was im Magen-Darmtrakt stetig Richtung Aussenwelt befördert wird, gehört auch tatsächlich dorthin – und sollte keinesfalls ins Innere der Bauchhöhle gelangen. Ätzende Verdauungssäfte und keimbeladene Nahrungsrückstände könnten eine Bauchfellentzündung oder sogar eine tödliche Blutvergiftung (Sepsis) auslösen. Nadel und Faden allein sind allerdings nicht unbedingt das ideale chirurgische Werkzeug, um zwei Darmstücke aneinander zu fügen – schliesslich würde man auch eine lecke Milchtüte nicht zunähen wollen. Empa-Forschende haben daher jetzt ein Pflaster entwickelt, das zwei aneinandergenähte Darmstücke stabil abdichtet und somit gefährliche Lecks verhindert.

Gefürchtete Komplikationen
/documents/56164/16644319/EQ71+Darm+para+Alexandre+Anthis+Pflaster+870.jpg/e76359ac-5a28-41e2-acc8-eb6b9a341200?t=1618403004130
Alexandre Anthis: "Das Kompositmaterial hält auch bei Maximalbelastung". Bild: Empa

Die Idee, vernähtes Gewebe in der Bauchhöhle mit einem Pflaster zu versiegeln, ist bereits im Operationssaal angekommen. Nachdem sich aber erste derartige Produkte als schlecht verträglich oder gar giftig herausstellten, sind diese Pflaster heutzutage aus bioabbaubaren Eiweissen. Das Problem: Der klinische Erfolg ist nicht immer optimal und variiert je nach verklebtem Gewebe. Denn die Eiweisspflaster sollen vor allem den Heilungsprozess unterstützen, lösen sich jedoch beim Kontakt mit Verdauungssäften zu schnell auf und halten nicht immer dicht. «Leckagen nach Bauchoperationen gehören auch heute noch zu den besonders gefürchteten Komplikationen», erklärt Empa-Forscherin Inge Herrmann, die auch die Professur für Nanopartikuläre Systeme an der ETH Zürich bekleidet.

Das Team um Herrmann und Alexandre Anthis vom «Particles-Biology Interactions» Labor der Empa in St. Gallen suchte deshalb gemeinsam mit Andrea Schlegel, Chirurgin am «Queen Elizabeth University Hospital» in Birmingham nach einem Material, das Darmverletzungen und Operationswunden zuverlässig abdichtet. Fündig wurden sie bei einem synthetischen Kompositmaterial aus vier Acryl-Substanzen, die ein chemisch stabiles Hydrogel bilden. Zudem vernetzt sich das Pflaster aktiv mit dem Darmgewebe bis keine Flüssigkeit mehr durchkommt. Diese neuartige Technologie konnten die Forschenden bereits erfolgreich patentieren lassen. Die Quadriga aus Acrylsäure, Acrylsäuremethylester, Acrylamid und N,N′-Methylenbisacrylamid arbeitet dabei in perfekter Synergie, da jede Komponente mit einer spezifischen Eigenschaft zum Gesamtwerk beiträgt: eine stabile Bindung an die Schleimhaut, die Ausbildung von Netzwerken, die Stabilität gegenüber Verdauungssäften und Wasserdichtigkeit.

Massgeschneiderte Pflaster

In Laborexperimenten zeigten die Forschenden, dass das Polymersystem die Erwartungen erfüllt. «Die Haftfähigkeit ist bis zu zehnmal höher als bei herkömmlichen Klebematerialien», sagt Empa-Forscher Anthis. «Weitere Analysen ergaben zudem, dass unser Hydrogel das Fünffache der maximalen Druckbelastung im Darm aushält.» Und im Design des Materials liegt seine massgeschneiderte Wirkung: Der gummiartige Verbundstoff reagiert selektiv mit Verdauungssäften, die aus Darmwunden entweichen könnten, quillt auf und schliesst umso dichter. Der kostengünstige, bioverträgliche Superkleber, der zu einem Grossteil aus Wasser besteht, könnte auf diese Weise Spitalaufenthalte verkürzen und Gesundheitskosten einsparen. Alexandre Anthis plant daher bereits die nächsten Schritte Richtung klinische Anwendung des neuen Wundpflasters: «Wir sind gerade dabei, ein Start-up zu gründen, um dieses innovative Material zur Marktreife zu bringen.»


Redaktion / Medienkontakt
Dr. Andrea Six
Kommunikation
Tel. +41 58 765 61 33

Literatur

AHC Anthis, X Hu, MT Matter, AL Neuer, K Wei, AA Schlegel, FHL Starsich, IK Herrmann; Chemically Stable, Strongly Adhesive Sealant Patch for Intestinal Anastomotic Leakage Prevention; Advanced Functional Materials (2021); https://doi.org/10.1002/adfm.202007099
 



Links
ETH Zürich Pioneer Fellowship 2021 für Alexandre Anthis: AnastoSEAL: A smart patch, eradicating surgical leaks
 
 

Follow us
 
Personalisierte Medizin

Der simulierte Patient

Wo herkömmliche Therapien ungenau und kaum steuerbar sind, wären digitale Zwillinge eine erstrebenswerte Lösung. Mit Hilfe des in silico-Gegenübers liesse sich etwa die Schmerzbehandlung verbessern, indem er eine präzise und vorausschauende Dosierung ermöglicht. Empa-Forschende haben nun mehrere hundert solcher Avatare auf der Basis von realen Menschen modelliert und experimentell behandelt. Erstmals erhielten die digitalen Zwillinge dabei Rückmeldungen von echten Patientinnen und Patienten, dank derer die Empa-Forschenden die Therapie dann weiter optimieren konnten.
>>>>

Recycling

Gib Gummi für die Umwelt

Schweizer Autofahrer nutzen zahllose Autoreifen ab. Statt sie zu verbrennen, liessen sie sich quasi vor Ort wiederverwenden: Im Asphalt anderer Länder steckt längst Gummi aus Altreifen. Die Empa und Partner aus der Praxis beleuchten diese Idee für Schweizer Verhältnisse.
>>>>

Altlasten

Entgifter aus der Deponie

Bakterien aus einer indischen Mülldeponie könnten helfen, chemische Altlasten zu beseitigen. Im Fokus stehen Pestizide wie Lindan oder bromierte Flammschutzmittel, die sich in der Natur und in Nahrungsketten anreichern. Forscher der Empa und der Eawag erzeugten mit Hilfe dieser Bakterien Enzyme, die solche Chemikalien zerlegen können.
>>>>

Quick Access

Lesen Sie das neuste Empa Quarterly!