Glas hält mehr aus
Unzerbrechlich
Kann Glas bei Raumtemperatur fliessen und dadurch harte Stösse aushalten? Eine Theorie aus den 1970er-Jahren sagte das voraus. Empa-Forscher haben nun den Beweis geliefert. Die Ergebnisse könnten die Basis bilden für robuste, 3D-gedruckte Mikrostrukturen aus Glas.
Was wir gemessen haben, hat noch niemand auf der Welt gesehen», sagt Rajaprakash Ramachandramoorthy. «Wir sind den Brucheigenschaften von Glas weiter auf die Spur gekommen als je ein Forscherteam zuvor.» Raj – so sein Spitzname unter Kollegen – arbeitet in der Forschungsabteilung «Mechanics of Materials and Nanostructures» unter der Leitung von Johann Michler.
Das Team erkundet Materialeigenschaften im allerkleinsten Massstab: Selbst entwickelte Maschinen drücken mit winzigen Stempeln auf wenige Mikrometer dünne Säulen, sogenannte Mikrosäulen. Im Elektronenmikroskop und mit Hilfe feinster Kraftmessungen wird während der Versuche beobachtet, wie genau die Mikrosäule zerbricht oder sich verformt. Mit den Ergebnissen können die Forscher Aussagen über die innere Struktur der Materialien treffen.
Minutenlang drücken und sekundenschnell hämmern
Ramachandramoorthy hat zusammen mit seinem Kollegen Jakob Schwiedrzik mit dieser Methode nun Quarzglas unter die Lupe genommen – und dabei Eigenschaften entdeckt, die mit der makroskopischen, uns wohlbekannten Glas-Welt wenig zu tun haben: Glas ist nämlich beim ganz langsamen Draufdrücken zäh wie Knetmasse, beim etwas schnelleren Drücken kann es reissen und
bersten – und bei ganz kurzen, schnellen Druck-Impulsen verhält es sich wieder zäh und nachgiebig. «Unser langsamster Druckversuch hat etwa 20 Minuten gedauert», so der Empa-Forscher. «Unser schnellster Impuls auf den Mikrosäulen war dagegen 100 Mikrosekunden kurz, vergleichbar mit einem Hammerschlag.»
Theoretische Voraussagen aus den 1970ern verifiziert
Die Arbeiten der Empa-Forscher liefern nun erstmals praktische Erfahrungswerte und Messdaten für Materialeigenschaften, die bisher nur in der Theorie postuliert werden konnten. Die Verformungseigenschaften von amorphen Materialien wie Glas waren Ende der 1970er-Jahre von den Physikern Frans Spaepen an der Harvard University und Ali S. Argon am benachbarten
Massachusetts Institute of Technology (MIT) unabhängig voneinander vorausgesagt worden. Beide Theorien, wir wollen sie hier Glasfluss-Theorien nennen, weisen dabei in die gleiche Richtung und sagen: Wer ein bruchfestes mikromechanisches System bauen möchte, sollte es aus Glas bauen statt aus kristallinem Silizium. Denn Glas halte hohe Kräfte besser aus.
Doch in Experimenten konnte das nie bewiesen werden. Nur ganz langsame Druckversuche mit mikroskopisch kleinen Probekörpern waren möglich. In der makroskopischen Welt hingegen lösen dynamische Experimente mit hohen Geschwindigkeiten eine Stosswelle in der Probe aus, die die Verformungsmechanismen im Material überlagert. Es passiert etwas, das wir alle aus Erfahrung kennen: Das belastete Glas bricht, sobald die Schockwelle auf einen Materialfehler trifft, der in grossen Probekörpern praktisch immer vorkommt.
Das Experiment funktioniert nur mit Mikro-Säulen
Ramachandramoorthy und Schwiedrzik fanden an der Empa den Ausweg: Sie nutzten Mikro-Säulen aus geätztem Glas, die so klein sind, dass statistisch kein Materialfehler mehr in ihnen schlummert, der die Ergebnisse verzerren könnte. Zugleich ist die Schockwelle kein Problem mehr: Sie läuft nun so schnell durch den mikroskaligen Probenkörper, dass sich der Effekt nicht mehr mit dem Hammerschlag überlagert, der die Glas-Atome verschiebt. Nun lassen sich beide Effekte sauber getrennt voneinander dokumentieren. Erstmals lässt sich die 40 Jahre alte Glasfluss-Theorie von Spaepen und Argon experimentell überprüfen.
3D-gedruckte Glasbauteile für Uhren
Die Forschung an der Empa hat in der Schweizer Uhrenindustrie und bei Fabrikanten von mikroelektromechanischen Systemen (MEMS) bereits für Aufsehen gesorgt. Sie könnte die Grundlage liefern für 3D-gedruckte, gläserne Mikrobauteile, die in stossfeste Uhren oder robuste Messinstrumente eingebaut werden könnten. Die Schweizer Luxusuhrenmarke Ulysse Nardin präsentierte im März 2019 bereits den Prototyp einer Uhr namens Freak neXt, der mit einem leuchtenden Minutenzeiger aus Glas ausgestattet war. Das Glas-Bauteil, eine hauchfeine Kapillare, gefüllt mit einer fluoreszierenden Flüssigkeit, hatte die Schweizer Spezialfirma Femtoprint im 3D-Druck hergestellt. Doch vom Prototyp für die Uhrenvitrine bis zum stossfesten Serienprodukt ist noch einige Entwicklungsarbeit zu leisten. Die Grundlagen hierfür wollen die Forscher der Empa nun legen.
Glashersteller stehen Schlange
Rajaprakash Ramachandramoorthy spürt bereits, dass er nicht nur als Ideenlieferant für die Uhrenindustrie gefragt ist. Er hat alle Hände voll zu tun. Nach den publizierten Ergebnissen mit reinem Quarzglas haben Hersteller von Float-Glas und Boratglas angeklopft. Sie alle wollen mehr über die Mikro-Eigenschaften ihrer Produkte erfahren. Schon sind die nächsten Forschungsprojekte aufgegleist. «Mit unserer Methode können wir grundsätzlich jedes Materialsystem untersuchen, unter anderem amorphe Materialien, Metalle, Polymere, Biomaterialien oder Keramiken», sagt der Forscher.
Die im Labor in Thun entwickelte Maschinerie möchte er nun für ausgedehnte Versuchsreihen nutzen. «In Zukunft wollen wir die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen zwischen –150 und +1000 Grad Celsius bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten messen.» Der genaue Blick auf die Eigenschaften kleinster Mikrosäulen könnte bald den Weg freimachen für eine Reihe bedeutender Erfindungen.