Nahostexperte Ulrich Tilgner über aktuelle Entwicklungen im Iran

Ein Land im Auf- und Umbruch

23.01.2007 | MATTHIAS NAGEL

Ulrich Tilgner, der prominente Nahostkorrespondent und Leiter des ZDF-Büros in Teheran, hielt am 17. Januar in der voll besetzten Empa-Akademie in Dübendorf einen Vortrag über «Bildung, Technologie und wirtschaftliche Entwicklung im Iran». Lesen Sie hier nach, was er durchaus Spannendes zu berichten hatte.

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Der in Teheran lebende Tilgner machte zunächst anhand Irans jüngerer Geschichte klar, dass seit der dortigen islamischen Revolution von 1979 stets die Politik die Entwicklung des Landes dominiert habe. Irans Öffnungsversuche in Richtung Westen wurden allerdings aus ideologisch motivierten Gründen international blockiert und das Land vom Westen mit Wirtschaftssanktionen belegt. Der Iran hat dies als zurücksetzende Provokation wahrgenommen, was letztlich 2005 zur Wahl der radikal-konservativen Regierung mit Staatspräsident Ahmadinedjad beigetragen habe. Die daraufhin eingeleitete Verschärfung der internationalen Sanktionen hat das Land inzwischen wieder weit zurückgeworfen, wie Tilgner aus eigenen Alltagserfahrungen berichten konnte.

 
Nahostexperte Ulrich Tilgner «mit Leib und Seele voll dabei» während seines Vortrages an der Empa-Akademie.
 

Da auch grosse Schweizer Banken die Geschäftskontakte mit Iran eingefroren hätten, sei es derzeit nicht mehr möglich, Geldüberweisungen nach Iran über europäische Banken abzuwickeln, und teilweise sei sogar der Internet-Zugang zu seinen eigenen Kontodaten in Deutschland blockiert. Heute würden die Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung Irans klar von aussen diktiert. Wegen der internationalen Sanktionsmassnahmen seit den letzten Wahlen gerate die ultrakonservative Regierung um Präsident Ahmadinedjad innenpolitisch zunehmend in Isolation.

 

Es gebe deutlich erkennbare Anzeichen für Bemühungen, deren Machtträger in der Verwaltung „trocken zu legen“, wie Tilgner seine Beobachtungen formulierte. Die Mehrheit der Bevölkerung wolle nicht mehr eine religiös dominierte, isolationistische Hardliner-Politik. Auch auf höchster politischer Ebene sei wohl klargeworden, dass sich Iran öffnen und mässigen müsse, auch wenn das gegenwärtig regierende konservativ-geistliche Establishment wohl noch nicht zu Verhandlungen mit dem Westen bereit sei.

Atomstaat Iran: Bluff oder reale Gefahr?

Die widersprüchliche Haltung der gegenwärtigen Machtträger in Teheran kommt laut Tilgners Einschätzung insbesondere bei der politisch besonders akuten Frage der Atompolitik zum Ausdruck. Wie weit die iranischen Atomprogramme tatsächlich gereift sind, könnten von aussen nicht einmal ausgewiesene Experten realistisch nachvollziehen. Die Möglichkeit einer propagandistisch motivierten Hochstapelei könne dabei gemäss Tilgner wohl nicht ganz ausgeschlossen werden. Für waffenfähiges Uran brauche es einen technisch nur schwer erreichbaren Anreicherungsgrad von über 90%, wobei laut iranischen Quellen derzeit ein solcher von 8% erreicht sei. Wie Tilgner meinte, werde es vermutlich bis etwa März dauern abschätzen zu können, ob die Führung in Teheran als zukünftige Strategie Bereitschaft zu Verhandlungen signalisieren oder durch Meldungen über neue eigene Atom-Fortschritte die Provokation aufrechterhalten wolle.

 
Das Auditorium der Empa-Akademie war für den Vortrag von Ulrich Tilgner über den Iran bis auf den letzten Platz besetzt.
 

Iranische Führung im Stress

Die im Land selbst aufkeimende Unzufriedenheit der Bevölkerung könne laut Tilgner von der Führung nur durch weitreichende Zugeständnisse abgefangen werden. Eine zusätzliche chronische Stresssituation mit dem Westen sei dabei ohne weitere innere Verluste der Macht wohl nicht langfristig durchzuhalten. So sei in nächster Zeit wohl mit einer gewissen Mässigung oder Bereitschaft der iranischen Führungsriege zum Einlenken und zu Kompromissen zu rechnen. 

 

Derzeit laufe der interne Machtkampf zwischen den gemässigten Reformkräften und den Revolutionskonservativen auf allen Ebenen. Eine Verschlechterung oder weitere Beschneidung der Lebensverhältnisse der iranischen Bevölkerung würde dabei wohl unweigerlich zum Machtverlust des konservativen Establishments führen. Das Regime versuche daher, seine gefährdete Rolle kurzfristig durch ungesunde, wirtschaftspolitisch langfristig unhaltbare Subventionierungsmassnahmen zu stützen. Zudem habe die iranische Führung zumindest auf Propagandaebene unmissverständlich klargestellt, dass im Fall eines westlichen Angriffes auf das Land ein Mehrfrontenkonflikt rund um den arabischen Golf die unweigerliche Folge wäre, und das zweifellos unter Einbezug von zahlreichen arabischen Ölquellen.

Bevölkerungsexplosion, Wirtschaftsboom und Ölpolitik

Bezüglich Ölfrage machte Tilgner auf die trotz aller äusseren Beschränkungen durchaus wachsende Binnenwirtschaft sowie die kontinuierliche Zunahme der Bevölkerungszahl aufmerksam. Dadurch steigere sich auch der Energieverbrauch Irans exponentiell. Zwar verfüge das Land über die drittgrössten Erdölreserven der Welt, die Effizienz der Ausbeutung sei jedoch durch die rückständige Fördertechnik infolge der internationalen Sanktionspolitik schon längst nicht mehr zeitgemäss. Tilgner wies auf Hochrechnungen hin, die besagen, dass der Iran ab ca. 2013/2015 wegen des stetig wachsenden Eigenbedarfs nicht mehr in der Lage sein werde, Erdöl zu exportieren. Da derzeit zudem alle Warenströme nach Europa durch die verschärfte Sanktionspolitik behindert seien, würden diese durch Exporte in den ostasiatischen Raum kompensiert. Der rasant wachsende Zusatzbedarf an Erdöl in diesen Schwellenländern mache dabei in Anbetracht der verhärteten politischen Rahmenbedingungen die Situation für den Westen langfristig nicht einfacher, wie der Nahostkenner meinte. Durch ein Umlenken der Gasströme weg von Europa wäre Russland als europäischer Hauptlieferant in der Rolle des Profiteurs. Das gleiche würde auch für eine militärische Eskalation rund um die Schiffspassage von Hormuz gelten, wo die Tanker die Hauptmengen des Erdöls für Europa transportieren. Wie Tilgner berichtete, seien bei den jüngsten Verhandlungen um die UN-Sanktionen die Interessen Russlands weitgehend uneingeschränkt berücksichtigt worden, indem Atomexporte von Russland in den Iran durch die Beschlüsse praktisch nicht betroffen seien.

Zunehmende Bildung und neue Rolle der Frauen

Seit den Jahren der islamischen Revolution habe sich im Iran die Bildungssituation deutlich verbessert; die Analphabetenrate läge heute für die junge Generation landesweit praktisch bei Null, und Absolventen von angesehenen Universitäten im Land seien auch im Ausland hoch willkommen, führte Tilgner aus. Bei einem eher als Stagnation wahrgenommenen jährlichen Wirtschaftswachstum von rund 6% bestehe im Iran einerseits ein beträchtlicher Bedarf an Akademikern, andererseits müssen aber auch für die Beschäftigung der stetig wachsenden Bevölkerung jährlich zunehmend mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Wie Tilgner aufgrund seiner Beobachtungen versicherte, werde dieser Entwicklungsboom wesentlich durch gut ausgebildete Frauen mitgetragen. Inzwischen seien sogar in technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen rund 60% der Universitätsabsolventen Frauen. Selbst in seinem eigenen Produktionsteam habe er inzwischen zwei Frauen als Assistentinnen angestellt, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. «Die Frauen sind einfach besser» – warf Medienmann Tilgner anerkennend ein und erhielt dafür den spontanen Applaus des Publikums. Dennoch bringe diese Entwicklung langfristig auch gewisse soziale Probleme mit sich, da die gut ausgebildeten Frauen häufig Schwierigkeiten hätten, geeignete Ehepartner zu finden.

Teilweise kontraproduktive Sanktionen

Im Fall eines militärischen Angriffs auf iranische Atom-Produktionsstätten ist Tilgner der Ansicht, dass sich ein daraus entstehender kriegerischer Konflikt nicht auf den Iran alleine beschränken liesse; denn seine technische Entwicklung sei teilweise überraschend hochstehend, da im Iran – ähnlich wie in China – ausländische Hochtechnologieprodukte virtuos kopiert und modifiziert würden. Der Transfer von westlichen Hightech-Produkten und modernen Waffensystemen sei trotz der bestehenden Handelssanktionen nämlich in Anbetracht des Kriegschaos im benachbarten Irak nicht zu unterbinden. Sollte das derzeit gehandhabte Sanktionsregime gegen den Iran noch verschärft werden, könne sich das Land mit seiner gegenwärtigen Entwicklung vielleicht noch sechs bis acht Jahre auf seine Rohstoffe, Geldmittel und Manpower abstützen, bevor es politisch kollabiere und damit als Faktor im Nahen Osten implodiere, – und das mit durchaus vorhersehbaren Konsequenzen, wie Ulrich Tilgner abschliessend betonte.

 

Autor: Dr. Matthias Nagel, Empa