27. Wissenschaftsapéro

Ist Eisenbahnlärm unvermeidlich?

21.12.2005 | REMIGIUS NIDERÖST

Auch wenn die Schweiz bei der Bekämpfung des Bahnlärms international eine Vorreiterrolle einnimmt, gibt es hier zu Lande noch viel zu tun. Darüber waren sich am Empa-Wissenschaftsapéro alle einig, junge Forscher wie «alte Hasen».

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Rossano Stefanelli von der ETH Zürich erforscht die Ursachen von Kreischgeräuschen bei Tram und Bahn. Zur „Einstimmung“ liess er es in der Akademie ordentlich quietschen und kreischen, was dem Publikum in Ohren und Knochen fuhr. Doch wie entstehen diese unangenehmen Geräusche überhaupt? Und warum kreischt das eine Schienenfahrzeug, während ein anderes – aus den exakt gleichen Bauteilen – „stumm“ daherrollt? Eine komplizierte Angelegenheit, die auf winzige Unterschiede bei den einzelnen Komponenten zurückzuführen ist.

Was verursacht Kurvenkreischen?

Als gesichert gilt, dass das Wechselspiel zwischen Gleiten und Haften am Kontaktpunkt von Rad und Schiene die Ursache für das Kreischen ist. Aber nicht alleine; auch Schienenzustand, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und andere „äussere Einflüsse“ spielen eine Rolle. Um das Problem wissenschaftlich zu durchleuchten, wurden diese Einflüsse sowie ihre Auswirkungen auf die Lärmentwicklung an verschiedenen Bahnabschnitten gemessen. Danach versuchten die ETH-Ingenieure mit speziell hierfür entwickelten Simulationsprogrammen, das Fahrverhalten am Computer zu modellieren. Anschliessend verglichen sie die Messresultate mit den Simulationsergebnissen. Nach etlichen Programmierschritten, in denen das Computermodell der Wirklichkeit immer mehr angepasst wurde, gelang es den Forschern schliesslich, Kurvenkreischen am Computer zu simulieren und Gegenmassnahmen vorzuschlagen, z.B. Radschallabsorber, Schienendämpfer, Gummireifen oder Lärmschutzwände. Doch trotz aller Fortschritte haben die Lärmforscher auch in Zukunft noch alle Hände voll zu tun; unter anderem geht es darum zu verstehen, warum das Kreischen häufig  «spontan» auftritt, um dann genauso unerwartet wieder zu verschwinden.

Lärmbekämpfung an der Quelle

Einer der Vorteile des Schienenverkehrs ist eine besonders effiziente Nutzung der Energie. Die gute Umweltbilanz wird allerdings durch massive Lärmemissionen getrübt. Grenzwertüberschreitungen von 20 Dezibel (dB) und mehr machen die Bahn zum lautesten Transportmittel. Hauptverursacher sind die vor allem nachts verkehrenden Güterzüge, die oft noch mit so genannten Graugussklotzbremsen ausgerüstet sind. Eine veraltete Technik, die hohe Rollgeräusche verursacht. Personenzüge bremsen dagegen schon seit Jahren mit geräuscharmen – dafür teureren – Scheibenbremsen.

Leisere Güterzüge verspricht sich der Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr der der Technischen Universität Berlin, Prof. Markus Hecht, von einer Innovation: Das von einem deutsch-schweizerischen Konsortium neu entwickelte Güterwagendrehgestell «Leila» ist um ganze 18 dB leiser als herkömmliche, graugussgebremste Drehgestelle. Es ist zudem leichter, verschleissärmer und weniger störungsanfällig. Zu den technischen Finessen gehören Radscheibenbremsen mit elektronischer Regelung und elektronische Wartungs- und Diagnosesysteme. Bestehende Güterwagen können relativ einfach mit „Leila“ nachgerüstet werden. Dadurch liessen sich die derzeit hohen Standzeiten der Güterwagen deutlich senken und die Rentabilität der Bahn steigern – ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil in der Konkurrenz zum Transport auf der Strasse. Sobald «Leila» die Zulassungsprüfungen bestanden hat, würden die ersten Wagons damit ausgerüstet, so Hecht. In zwei Jahren könne das neue Drehgestell dann europaweit eingesetzt werden.

Umsetzung der Lärmschutzverordnung in Verzug

Lärmemissionen unterliegen in der Schweiz der so genannten Lärmschutzverordnung (LSV), die 1986 – im Gegensatz zum Ausland – auch für bestehende Eisenbahnstrecken Grenzwerte festgelegt hat. Die damit verbundenen Sanierungsziele seien leider bei weiten noch nicht erreicht, erklärte der Empa-Lärmexperte und Umweltingenieur Jean-Marc Wunderli am Wissenschaftsapéro. Erst in Rahmen des FinöV-Gesetzes (Finanzierung des öffentlichen Verkehrs) wurden die notwendigen Mittel gesprochen, die auf eine Sanierung der meisten Fälle mit Grenzwertüberschreitungen bis zum Jahr 2015 hoffen lassen. Die Erneuerung der Schienenfahrzeuge wird rund 820 Millionen Franken kosten und eine Einhaltung der Immissionsgrenzwerte in ca. 38% der Fälle bewirken. Weitere 31% der Grenzwertüberschreitungen können durch Lärmschutzwände, die nahe an den Lärmquellen angebracht werden und daher sehr effektiv sind, saniert werden. Beim restlichen Lärm sind jedoch nur Ersatzmassnahmen möglich, etwa der Einsatz von Schallschutzfenstern.

Handlungsbedarf sieht Jean-Marc Wunderli auch bei dem zur Erstellung von Planungsgrundlagen und Situationsbeurteilungen verwendeten Lärmberechnungsmodell «Semibel», das noch aus den 80er-Jahren stammt. Vergleichsberechnungen der Empa mit neueren Computermodellen zeigen systematische Fehler von Semibel, sowohl bei der Berechnung der Lautstärke an der Lärmquelle als auch bei der Schallausbreitung.

Vermehrte Aufmerksamkeit verdiene auch die Erforschung der Auswirkungen von Lärm auf die menschliche Gesundheit. Obwohl sich etwa der Eisenbahnlärm im Verlauf der Jahre deutlich verändert hat, wurden seit Einführung der LSV keinerlei Studien zu diesem Thema mehr durchgeführt. Wunderli wies darauf hin, dass Grenzwerte und Beurteilungsmethoden nicht in Stein gemeisselt sein dürften, sondern in regelmässigen Abständen kontrolliert und angepasst werden müssten.

Weitere Informationen

Jean-Marc Wunderli, Abt. Akustik, , Tel. 044 823 47 48.

Was ist der Empa Wissenschaftsapéro?

An den regelmässig stattfindenden Wissenschaftsapéros greift die Empa-Akademie gesellschaftlich relevante Forschungsthemen auf. Jeweils drei bis vier ReferentInnen aus Forschung, Politik und Wirtschaft beleuchten in ihren Vorträgen Ergebnisse und Absichten zum behandelten Thema aus verschiedenen Perspektiven. Anschliessend stehen sie den Besuchern entweder in Diskussionsrunden oder beim Apéro Rede und Antwort.

Die Wissenschaftsapéros stehen Laien und Fachleuten offen; der Eintritt ist frei.

Den aktuellen Veranstaltungskalender finden Sie unter: www.empa-akademie.ch/veranstaltungen