Das Auf und Ab bromierter Flammschutzmittel

Ein Bohrkern erzählt giftige Geschichten

20.05.2005 | REMIGIUS NIDERÖST
Die Empa entlockte einem Bohrkern aus dem Greifensee die Lebensgeschichte von bromierten Flammschutzmitteln: Der rasante Anstieg, als sie auf den Markt kamen, der anschliessende Rückgang, sobald ihre Giftigkeit erkannt war, und die explosionsartige Zunahme eines Ersatzproduktes. Zu sehen ist der Bohrkern am Tag der offenen Tür in Dübendorf, Samstag, 25.Juni 2005.
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Bromierte Flammschutzmittel verhindern wirksam Brände von Kunststoffen und Textilien. Doch der Schutz wird mit unerwünschten Nebenwirkungen erkauft: einige dieser Industriechemikalien sind problematisch. Seit mehreren Jahren wird daher in Europa auf ihre Verwendung weitgehend verzichtet. Dies hat die Empa in Zusammenarbeit mit der EAWAG kürzlich anhand eines Bohrkerns aus dem Greifensee bestätigt. Nach einem rasanten Anstieg in den 1980er-Jahren sind die Mengen dieser Flammschutzmittel seit 1995 wieder leicht rückläufig. Die Empa deckte allerdings auch auf, dass die Konzentrationen eines Ersatzproduktes bedenklich ansteigen. 
Bromierte Flammschutzmittel werden nur sehr langsam abgebaut. In Seen lagern sich die Stoffe Jahr für Jahr in den Sedimenten am Grund ab und archivieren auf diese Weise ihre Geschichte. Im Jahr 2003 förderten Empa und EAWAG diese Geschichte zu Tage. Die EAWAG stach einen etwa 150 cm langen Bohrkern aus dem Grund des Greifensees und datierte die „Jahrringe“ des Kerns durch Messungen des Isotops Cäsium 137. Das wurde beim sowjetischen Atombombentest 1961/62 und bei der Explosion im Kernreaktor in Tschernobyl 1987 in grossen Mengen freigesetzt und findet sich in den entsprechenden Schichten des Kerns wieder.
In Scheiben geschnitten und gefriergetrocknet, gelangten die obersten 42 cm des Bohrkerns schliesslich in die Labors der Empa. Dort beschäftigen sich ForscherInnen intensiv mit bromierten Flammschutzmitteln. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 50 – Hormonaktive Stoffe, Bedeutung für Menschen, Tiere und Ökosysteme – untersuchen sie deren Umweltverhalten und entwickeln Methoden für den chemischen Nachweis.


POPs – gefährliche Dauergifte
Die ForscherInnen lösten die Substanzen aus dem Sediment heraus, reinigten sie und untersuchten drei Vertreter der bromierten Flammschutzmittel, die sich durch die Anzahl der in jedem Molekül enthaltenen Bromatome unterscheiden: PentaBDE (fünf Bromatome), OctaBDE (acht Bromatome) und DecaBDE (zehn Bromatome). PentaBDE und OctaBDE zählen zu den Dauergiften, auch POPs (persistent organic pollutants) genannt. POPs sind toxische Substanzen, die schwer abbaubar und bioakkumulierbar sind, sich also in der Nahrungskette anreichern.
Auf PentaBDE und OctaBDE treffen diese Eigenschaften zu: Sie sind hormonaktiv, beeinflussen den Hormonhaushalt und stehen im Verdacht, die Entwicklung von Mensch und Tier zu stören. Sie sind ausgesprochen langlebig; Wind- und Wasserströme verfrachten sie weltweit, so dass sie sogar in den Eisbären der Arktis zu finden sind. Und in der Nahrungskette werden sie von kleinsten Organismen bis hin zu den Spitzenkonsumenten – Menschen und Raubtiere – weitergereicht. DecaBDE ist dagegen wahrscheinlich kein POP, da es nach bisherigen Erkenntnissen nicht bioakkumulierbar ist. Zudem ist es ist weniger toxisch.


 

 

 
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Der Bohrkern aus dem Greifensee dokumentiert eindrücklich die Geschichte bromierter Flammschutzmittel. Zu finden ist aber auch das Auf und Ab anderer Schadstoffe: PCB, ein Isoliermittel für elektrische Anwendungen, Dioxine, die beim Verbrennen von Chemikalien entstehen, sowie DDT, ein Mittel zur Insektenbekämpfung. All diese Substanzen sind hochgiftig und wurden deswegen, sobald die Gefahr erkannt war, verboten.

 

 

 

 

Harmloses Ersatzprodukt?
Die Ergebnisse der Bohrkernanalyse liegen seit kurzem vor: 1960 treten PentaBDE und OctaBDE erstmals in den Sedimenten des Greifensees auf. 1995 erreichen die Konzentrationen ein Maximum und sinken seitdem wieder leicht ab. Im Gegensatz dazu nimmt die Konzentration von DecaBDE in den letzten 20 Jahren rasant zu; alle neun Jahre verdoppelt sich die Menge.
Der Grund für diesen Verlauf ist in der Politik zu finden. Als sich Mitte der 1990er-Jahre ein baldiges Verbot von PentaBDE und OctaBDE abzeichnete, verzichtete die Industrie in Europa freiwillig auf deren Verwendung. Im Juni 2004 trat das Verbot in der EU in Kraft. Seitdem wird DecaBDE als weniger gefährliches Ersatzprodukt verwendet – in immer grösseren Mengen.
Die Forscherwelt ist alarmiert. Erste Untersuchungen der Empa zeigen, dass sich DecaBDE in der Umwelt zu Stoffen abbaut, die den giftigen PentaBDE und OctaBDE ähneln. Das vermeintlich eher harmlose Ersatzprodukt birgt also durchaus Gefahren. Weitere Forschungsprojekte sollen klären, welche Abbaustoffe gebildet werden und wie sie in See und Nahrungsketten gelangen. Ausserdem planen Empa und EAWAG, weitere Bohrkerne in Hochgebirgsseen zu stechen. 

 

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