20. Wissenschaftsapéro

Abfälle erzählen Geschichten

28-ott-2004 | REMIGIUS NIDERÖST
Was ein Mensch wegwirft oder liegen lässt, sagt viel über seine Lebensgewohnheiten aus. Dies gilt für den heutigen Kehricht genauso wie für den Müll von gestern. Das zeigten drei Referate am jüngsten Wissenschaftsapéro der Empa-Akademie. Abfälle sind denn auch wertvolle Informationsträger in der Archäologie. Oftmals ist es gerade der unscheinbarste Unrat, der einen Einblick in längst vergangene Zeiten erlaubt. 
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«Zum Glück gab’s Littering schon vor 1800 Jahren!» Mit dieser augenzwinkernden Bemerkung eröffnete der Ur- und Frühgeschichtler Alex Furger sein Referat. So kann der Direktor der Römerstadt  Augusta Raurica heute dank Weggeworfenem manche Geschichte aus seiner Stadt erzählen. Eine systematische Kehrichtentsorgung kannten die Römer noch nicht, so dass Proben aus Erdschichten ehemaliger Strassengräben Rückschlüsse zulassen auf das Leben der vormals 20 000 EinwohnerInnen Augusta Rauricas. In solchen Siebrückständen wurde unter anderem auch die erste vollständig erhaltene römische Knoblauchzehe entdeckt.
Aber auch Abfälle aus privaten Räumen erzählen Geschichten. So offenbarte der Lehmboden einer Küche den langjährigen Speisezettel des Hauses, enthielt er doch rund 14 000 eingetrampelte Knochen. Eine Analyse dieser Küchenabfälle ergab, dass in besagtem Haus verhältnismässig oft das damals exklusive Hühnerfleisch gegessen wurde. Dies wiederum sagt einiges aus über die wirtschaftlichen Möglichkeiten der BewohnerInnen dieses Hauses. Ergiebig sind auch Fundorte wie Latrinengruben. In ihnen sind schon vollständig erhaltene Krüge zum Händewaschen gefunden worden, die vor 1800 Jahren wohl niemand bergen mochte, nachdem sie hineingefallen waren. Aber auch fossilisierte Kotkugeln sind in diesen Abtritten schon gefunden worden. So gelang an der Universität Basel gar der Nachweis, dass etliche RömerInnen vom Spulwurm befallen waren.
Aber auch an gewerblichen Abfällen – beispielsweise einer Metzgerei – lässt sich einiges über das Leben in der Römerstadt ablesen. Knochenreste und Werkzeuge erzählen, wie die RömerInnen ihr Vieh hielten und über die Technik, wie sie es schlachteten. Oder häufen sich an einem Fundort Werkstattabfällen wie beispielsweise Fehlgüsse aus Bronze, so lässt sich überhaupt erst beweisen, dass sich an der betreffenden Stelle eine Giesserei befand.

Wirtschaftsgeschichte dank Abfallprodukt
Das zweite Referat bedeutete einen Zeitsprung ins Mittelalter. Marianne Senn, die das Zentrum für Kulturgüteranalytik an der Empa aufgebaut hat, zeigte auf, wie ein unscheinbares Abfallprodukt der mittelalterlichen Eisengewinnung, die Schlacke, ein Stück Wirtschaftsgeschichte der Schweiz erschloss. Im Jura waren beim Bau der Transjurane (Autobahn A16) Schlacken in der Grössenordnung von Tonnen gefunden worden. Mit chemischen und mineralogischen Analysen derselben – aber auch der gefundenen Erze und Reste von Verhüttungsöfen aus Lehm – konnten für diverse Fundorte der Produktionsumfang und der Grad der Ausbeute bestimmt werden. Dank dieser Forschung ist heute klar, dass im Juragebiet und in den Alpen bereits im Frühmittelalter in grossem Stil Eisen verhüttet worden ist. Mit Ausnahme des Zentraljuras diente dies jedoch nur dem regionalen Bedarf.

Überfluss im Zürisack
Ob sich unsere Nachfahren dereinst aufgrund unserer Abfälle ein Bild vom Alltag in der Stadt Zürich machen können, ist fraglich. Von den heutigen Siedlungsabfällen bleibt wenig übrig, wie Adrian Aebersold vom stadtzürcherischen ERZ, Entsorgung und Recycling, mit seinen Ausführungen zeigte. Rund 100 000 Tonnen Kehricht aus Haushalt und Gewerbe wird jährlich in den beiden Kehrichtheizkraftwerken der ERZ verbrannt. Am Schluss bleibt – neben Fernwärme und Strom – pro Tonne verbranntem Kehricht noch gut 32 kg Filterstaub und 200 kg Schlacke übrig, deren Metalle jedoch zurückgewonnen werden.
«Der Inhalt des einzelnen Müllsacks oder Containers interessiert uns eigentlich nicht», gestand Adrian Aebersold. Für die Fachleute des ERZ sei eine regelmässige Auslastung, also eine genügend grosse und gleich bleibende Menge viel wichtiger. Neuerdings durchgeführte Analysen des Inhalts von Kehrichtsäcken lassen aber trotzdem Rückschlüsse zu auf Lebensgewohnheiten. Und diese sind gar von Quartier zu Quartier unterschiedlich. So fand sich im Müll aus der Langstrasse deutlich mehr Papier als beispielsweise im Abfall des Familienquartiers Witikon. Dort wiederum landen mehr kompostierbare Küchenreste im Eimer als in der Vergnügungsmeile der Stadt. Diese Unterschiede zu interpretieren sei schwierig, gestand Aebersold. In beiden Gebieten lässt sich am Abfall jedoch erkennen, dass unsere Lebensgewohnheiten geprägt sind von Konsum und Überfluss. Intakt verpackte Lebensmittel sind ein deutliches Indiz dafür.
Mit der Einführung der Sackgebühr vor gut zehn Jahren hat der Abfallberg in der Stadt Zürich leicht abgenommen, während die Recyclingquote von 20 auf 35 Prozent gestiegen ist. Auch wenn sich diese Zahlen seither kaum verändert haben, kam Entsorgungsfachmann Aebersold zum Schluss: «Umweltgerechte Entsorgung ist mittlerweile breit akzeptiert.»

Matthias Kündig

Was ist der Wissenschaftsapéro?

An den regelmässig stattfindenden Wissenschaftsapéros greift die Empa-Akademie fachlich und gesellschaftlich relevante Themen auf. Jeweils drei bis vier ReferentInnen aus Forschung, Politik und Wirtschaft präsentieren in ihren Vorträgen Ergebnisse und Absichten zu dem behandelten Thema. Anschliessend stehen sie auch den nicht mit dem Fach vertrauten Gästen entweder in der Diskussionsrunde oder beim Apéro Rede und Antwort.

Der nächste Wissenschaftsapéro findet statt am 13. Dezember 2004 zum Thema
«Wird Autofahren unbezahlbar?».
Ort: Empa, Dübendorf, Zeit: 16.30 Uhr. Es ist keine Anmeldung erforderlich.