Massgeschneiderte Schwingungsdämpfung

Makroskopische Kristallstrukturen können unerwünschte Schwingungen tilgen oder Geräusche filtern – und das alles ganz ohne Elektronik und Strom. Sie sind leichter und gleichzeitig trotzdem fester als bisher gebräuchliche Dämmstoffe. Für den gewünschten Einsatzzweck können sie sogar massgeschneidert werden.

Es war ein risikoreiches Forschungsvorhaben, an das sich konservativ handelnde Industrieunternehmen kaum je herangewagt hätten. Daher sprang der Empa Zukunftsfonds in die Bresche, dem das Potenzial der Fragestellungen imponierte: Gibt es Materialien, die eine hohe mechanische Tragfähigkeit aufweisen, und gleichzeitig dank ihrer inneren Struktur Schall und Vibrationen dämpfen? Ganz ohne Schaumgummi, Federn und Stossdämpfer? Lassen sich Materialien entwickeln, die das alte Ingenieurs-Dilemma zwischen Stabilität und der Dämpfung niederfrequenter Schwingungen lösen? Materialien, die es zum Beispiel ermöglichen, einen schweren Schiffsmotor so zu lagern, dass nicht mehr der gesamte Schiffskörper brummt? Theoretische Physiker hatten solche Materialien – sogenannte fononische Kristalle – bereits vorausgesagt. Doch nur wenige Wissenschaftler weltweit hatten diese eigentümlichen Kunst-Materialien bereits in der eigenen Hand gehalten und konnten ihre Eigenschaften am echten Objekt überprüfen.

Nach drei Jahren Forschungsarbeit hat ein Team der Empa und der ETH Zürich nun den Beweis erbracht: Solche Materialien gibt es wirklich und sie sind sogar bereits zum Patent angemeldet. Die Forschenden haben die Versuchsstrukturen aus einer Aluminiumlegierung zudem erstmals per 3D-Druck angefertigt, um die Methode der Schall- und Vibrationsdämpfung weiter zu verfeinern. Ohne aktuelle Fertigungsmethoden wie den 3D-Druck von Metallen wäre es im Labor kaum möglich, fononische Kristalle für Versuchszwecke herzustellen. Die Entdeckung und Erforschung des potenten Dämpfungsmaterials hat buchstäblich so lange warten müssen, bis der 3D-Druck erfunden war.

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Projektleiter Andrea Bergamini (links) freut sich mit seinem Team: Ivo Leibacher, Armin Zemp und Stefan Schoenwald. Zusammen schufen sie drei Modellgenerationen schwingungsdämpfender Kristalle.

2013 nahm das ehrgeizige Projekt seinen Anfang. Die Empa-Forscher Tommaso Delpero und Andrea Bergamini liessen sich von einer Idee von Forschern des «California Institute of Technology» (Caltech) inspirieren und starteten gemeinsam mit den Empa-Akustik-Experten Stefan Schoenwald und Armin Zemp ihr Projekt. In einer ersten Arbeit berechneten sie, dass die ultraleichten dreidimensionalen Metallgitterstrukturen mit Zellen in Millimetergrösse, wie sie am Caltech entwickelt wurden, Ultraschallfrequenzen (100 kHz) sehr gut dämpfen sollten. Die logische nächste Frage lautete: Gibt es auch Strukturen, die Schall im hörbaren Bereich oder niederfrequente Schwingungen dämpfen – was enorme Anwendungsmöglichkeiten eröffnen würde? Und lassen sich solche Materialien gezielt auf eine Schwingungsfrequenz «tunen»?

Delpero machte erste Versuche mit dem Strukturmodell eines Diamanten. Eine solche Struktur, gebaut aus Tetraeder-Verbindungsstücken und kleinen Röhrchen, hängt als Anschauungsstück in den meisten Chemie-Hörsälen in Schulen und Universitäten. Delpero montierte das Modell zwischen zwei Aluminiumbleche und traktierte das unten liegende Blech mit diversen Frequenzen. Das Ergebnis war verblüffend: Manche Wellen reflektierte der Kristall gänzlich. Beim echten Diamanten sind es Röntgenstrahlen, die auf diese Weise gebeugt und gestreut werden. Das mehrtausendfach grössere Diamantmodell hatte mechanische Schwingungen mit mehrtausendfach grösserer Wellenlänge auf exakt die gleiche Weise beeinflusst.

Leichtes, zugleich steifes Material

Wie hoch das Potenzial der Erfindung einzuschätzen ist, erklärt Empa-Forscher Bergamini so: «Bislang brauchte man zum Dämpfen von Vibrationen eine Federkomponente und eine Dämpferkomponente, das kennen wir aus dem Auto.» Hohe Frequenzen und Töne liessen sich durch leichte Materialien dämpfen, für tiefe Töne und Vibrationen brauchte man bisher jedoch Materialien mit hoher eigener Masse.

«Diese Regel haben wir nun durchbrechen können», sagt Bergamini. «In Zukunft lassen sich auch tiefe Frequenzen mit leichten Materialien dämpfen – nämlich mit einem speziell dafür berechneten fononischen Kristall. Ein weiterer Vorteil: der Kristall ist steif und kann Gewicht tragen – er ist also keine federnde, weiche Unterlage.»

Neue Perspektiven im Maschinenbau

Für Anwendungen im Maschinenbau eröffnen sich damit völlig neue Perspektiven. Bislang sind unerwünschte Frequenzen oft mit adaptiven Systemen behandelt worden – also mit ausgefeilter Mess- und Regeltechnik. «Solche aktiven Dämpfungssysteme werden als Ultima Ratio für alle Probleme, die sich nicht anders lösen lassen, betrachtet», sagt Bergamini. «Doch Ingenieure möchten gern etwas Unkompliziertes, lang Haltendes bauen, das nicht während des Betriebs dauernd überwacht werden muss.» Fononische Kristalle brauchen keine externen Regelmechanismen. Sie funktionieren ohne Strom und Überwachungselektronik von selber – immer wie vorausberechnet.

Erdbebenschutz und Spionageabwehr

Andrea Bergamini denkt derweil bereits an die nächsten Experimente. So könnten die vibrationsdämpfenden Einheiten des fononischen Kristalls nacheinander in verschiedenen Grössen angeordnet werden. Mit diesem eingebauten Gradienten wäre es möglich, verschiedene unerwünschte Frequenzen auf einmal zu eliminieren. Über Anwendungen der fononischen Kristalle kann man heute bereits spekulieren. Neben Geräuschdämmung im Automobilbereich und im Maschinenbau ist auch Erdbebenschutz denkbar. Dazu müsste man Gebäude auf spezielle Kristallstrukturen bauen, die die sehr niederfrequenten seismischen Schwingungen tilgen können. Auch die Abschirmung von Konferenzräumen vor Lauschangriffen wäre denkbar. Man darf also gespannt sein, in welchen Bereichen uns die Empa-Erfindung in den nächsten Jahren begegnen wird.

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«Ich habe Materialwissenschaften studiert. Danach war ich mehrere Jahre im Bereich Maschinenbau tätig und habe mich mit Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit Strukturschwingungen beschäftigt. Unser Projekt über Metamaterialien ermöglichte es mir, zu meinen Ursprüngen zurückzukehren: Kristallsymmetrien, Dispersionseigenschaften, Atome und deren Verknüpfung mit den Problemen des realen Lebens. Jetzt entwickle ich neue, makroskopische Strukturen, inspiriert von natürlichen Kristallen, die ungewöhnliche und ausserordentliche Eigenschaften bieten, die weder mit natürlichen Materialien noch mit herkömmlichen Strukturen erreicht werden können. Für mich das Beste aus beiden Welten.»

Dr. Andrea Bergamini, Acoustics/Noise Control



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