19. Wissenschaftsapéro der Empa-Akademie

Der Kluge reist sicherer im Zuge – trotz Restrisiko

Aug 31, 2004 | MARTINA PETER

Auch im Zeitalter moderner Hochgeschwindigkeitszüge ist die Bahn das sicherste Verkehrsmittel, ein Restrisiko bleibt allerdings trotzdem bestehen. Zu diesem Schluss kamen drei Experten, die das Thema Sicherheit im Bahnverkehr aus drei Perspektiven beleuchteten: am Beispiel des ICE-Unglücks in Eschede, anhand des Sicherheitskonzeptes des Gotthard-Basistunnels sowie durch Risikovergleich verschiedener Verkehrsträger.

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Dank neuen Hochgeschwindigkeitszügen wie dem französischen TGV oder dem deutschen ICE konkurrierte die Bahn in den letzten Jahren auf Mittelstrecken zunehmend mit dem Flugverkehr. Auch auf dem schweizerischen Schienennetz erhöht sich mit dem Fahrplanwechsel im Dezember die Höchstgeschwindigkeit auf gut 200 km/h. Damit stellt sich bei der Bahn immer stärker die Frage nach der Sicherheit. „Wie sicher sind unsere Eisenbahnen?“ lautete das Thema des 19. Wissenschaftsapéros der Empa-Akademie am 23. August.

Unglück ohne Schuldige

Vorerst unbemerkt bricht am 3. Juni 1998 beim ICE „Willhelm Röntgen“, der mit 200 km/h Richtung Hamburg unterwegs ist, ein Radreifen. Das defekte Teil verklemmt sich unglücklich in einer Weiche, stellt diese um. Der hintere Teil des Zugs wird auf das Nachbargleis umgeleitet, der ICE rast gleichzeitig auf zwei Gleisen. Bei Eschede kollidiert er mit einem Brückenpfeiler. Die Folgen sind verheerend: Hundert Menschen sterben, ebenso viele werden verletzt. Laut Rolf Kieselbach, ehemaliger Experte für Schadensanalyse an der Empa, besitzt ein ICE bei Spitzengeschwindigkeit von 280 km/h eine kinetische Energie von drei Gigajoule. „Dies entspricht einer Sprengkraft von zirka 700 kg TNT“. Im Prozess zu diesem schwersten Unglück in der deutschen Eisenbahngeschichte wurde die Empa als Gutachterin beigezogen. Kieselbach, der diese Untersuchungen damals leitete, überprüfte, weshalb es bei besagtem Radreifen zu einem Ermüdungsbruch kommen konnte. Bei den Prüfungen im Labor und den Berechnungen fand er jedoch weder Mängel in der Konstruktion des Rades noch beim verwendeten Werkstoff. Ebenso wenig konnte er einen auslösenden Fehler an der Bruchstelle finden. Zwar stellte er kleinste Anrisse fest, diese fanden sich jedoch auch bei vielen anderen der 5000 bei ICEs demontierten Radreifen. Aber bei keinem der Radreifen führten diese Anrisse zu einem so genannten Schwingbruch. Für Kieselbach stand deshalb abschliessend fest: „Aus meiner Sicht ist der Fall ein Beispiel für das so genannte Restrisiko“. Der Prozess wurde denn auch nach zwei Monaten eingestellt. Bei heutigen ICE-Kompositionen werden Vollräder ohne Radreifen eingesetzt.

Einfach und sicher

Mit einem Restrisiko müssen auch die IngenieurInnen der Alptransit Gotthard AG rechnen. Dieses werde beim dereinst längsten Eisenbahntunnel der Welt jedoch kleiner sein als auf dem Rest der SBB-Strecke, erläuterte der zweite Referent. Christophe Kauer, bei der Alptransit zuständig für Betriebssicherheit, unterstrich, dass höchstmögliche Sicherheit nur erreicht werden könne, wenn diese bereits in der Planung berücksichtigt werde. Dies gelte gleichermassen für den Bau, die Beschaffung von Infrastruktur und Rollmaterial wie auch für Betriebs-, Alarm- und Rettungskonzepte. „Höchste Sicherheit nur in einem Bereich macht keinen Sinn“, betonte Kauer, die Sicherheitsinvestitionen müssten vielmehr aufeinander abgestimmt werden.  Beim Gotthard-Basistunnel hat man sich für zwei getrennte Tunnelröhren entschieden, die alle 325 m über so genannte Querschläge verbunden sind. Jede Röhre enthält zwei „Multifunktionsstellen“, wo Passagiere den Zug in kurzer Zeit über beleuchtete und belüftete Perrons verlassen können. Von dort können sie sich, falls nötig, auch in der benachbarten Röhre in Sicherheit bringen. Zudem besitzt der 57 km lange Basistunnel lediglich vier Weichen. Beim übrigen Schienennetz der SBB sind es pro Kilometer 1,7 Weichen, welche erfahrungsgemäss die häufigste Ursache für Entgleisungen sind. Grundsätzlich müssen die Anlagen so einfach und robust wie möglich sein und beim Einbau soll auf Schnickschnack verzichtet werden: nur soviel wie nötig, aber so wenig wie möglich.
Um Unfälle im Tunnel zu vermeiden, sollen dereinst nur „gesunde“, das heisst voll funktionsfähige Züge hineinfahren dürfen. Ermöglichen soll dies ein System zur Früherkennung von Schäden. Allerdings musste Kauer einräumen, dass ein solches von den Herstellern noch nicht angeboten wird. Auf dem SBB-Netz ist es denn bis heute erst möglich, verklemmte und überhitzte Bremsen frühzeitig zu erkennen. Noch nicht realisiert ist ebenfalls der Plan, während der Tunneldurchfahrt die heutigen Notbremsen durch eine Notalarmierung zu ersetzen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Zugskomposition nicht von PassagierInnen an einer gefährlichen Stelle im Tunnel zum Stillstand gebracht werden kann. „Bezüglich Sicherheit will die Alptransit in erster Linie Ereignisse verhindern, oder die Selbstrettung ermöglichen“, beschloss Christophe Kauer sein Referat. Fremdrettung ist in einem 57 km langen Tunnel äusserst schwierig.

Fehlende Sicherheitsziele

Als Passagier hat er das Gefühl, die Bahn sei sehr sicher, eröffnete Matthias Müller sein Referat. Dieser persönliche Eindruck decke sich auch mit seinen Erfahrungen als Risikoingenieur bei der Rückversicherung SwissRe. Der Blick auf die Unfall-Ursachen überrascht: Mehr als die Hälfte der Eisenbahnunfälle werden durch Aussenstehende verursacht. Jeder zweite Unfall bedeutet eine Kollision mit einem anderen Fahrzeug oder einer Person. Jeder fünfte Eisenbahnunfall kann auf technische Probleme bei Infrastruktur oder Rollmaterial zurückgeführt werden und noch jeder zehnte auf organisatorische Probleme, wie falsch gestellte Weichen. Für die Bahn spreche zusätzlich, dass der Schienenverkehr ähnlich stark überwacht werde wie der Luftverkehr, stärker jedenfalls als die Strasse. Hingegen sei das potentielle Ausmass eines Unglücks bei Zügen mit bis zu 1000 Passagieren natürlich ungleich grösser.
Der Vergleich der Anzahl Toten und Verletzten bei den drei Verkehrsträgern ergebe stets das gleiche Bild, fasste Risikoexperte Müller zusammen. Auf der Schiene reisen Passagiere etwas sicherer als in der Luft und – je nach dem, welche Zahlenbasis man verwendet – 3- bis 240-mal sicherer als auf der Strasse. Diese Reihenfolge ändert sich auch nicht, wenn Faktoren wie zum Beispiel Transportkapazität, Energieverbrauch oder Umwelteinflüsse berücksichtigt werden. Trotz all dieser Sicherheits-Vorteile der Bahn gelte, was bereits die Vorredner betont hatten: „Die Bahn ist sicher – ein Restrisiko aber bleibt“.

Redaktion

Matthias Kündig, Abt. Kommunikation/Marketing, Tel. + 41 44 823 43 96,

Remigius Nideröst, Abt. Kommunikation/Marketing, Tel. +41 44 823 45 98, Remigius.Nideroest@empa.ch     


 

Was ist der Wissenschaftsapéro?

An den regelmässig stattfindenden Wissenschaftsapéros greift die Empqa-Akademie fachlich und gesellschaftlich relevante Themen auf. Jeweils drei bis vier ReferentInnen aus Forschung, Politik und Wirtschaft präsentieren in ihren Vorträgen Ergebnisse und Absichten zu dem behandlten Thema. Anschliessend stehen sie auch den nicht mit dem Fach vertrauten Gästen entweder in der Diskussionsrunde oder beim Apéro Rede und Antwort.
Der nächste Wissenschaftsapéro findet statt am 18. Oktober 2004
zum Thema „Scherben, Schlacken, Plastikflaschen – der Mensch im Spiegel seiner Abfälle“.
Ort: Empa, Dübendorf, Zeit: 16.30 Uhr. Es ist keine Anmeldung erforderlich.